Digitale Diskurskultur und politische Meinungsbildung

Welche neuen Artikulationsräume entstehen im Internet und wie verändern sie den gesellschaftlichen Diskurs? Dieser Artikel liefert wissenschaftliche Hintergründe zum Themenfeld.

Veröffentlicht

21. Oktober 2020

Autorin

Claudia Haas

DOI

doi.org/10.5281/zenodo.4072218

Besonders sichtbar wird der Effekt der Digitalisierung an einer veränderten Diskurs- und Organisationskultur der Zivilgesellschaft. Während soziale Medien wie Facebook, Twitter und Instagram anfangs hauptsächlich als Plattformen zur interpersonalen Vernetzung und Selbstdarstellung genutzt wurden, sind sie mittlerweile eine zentrale Schnittstelle für die Informations- und Nachrichtennutzung. Mit ihren vielfältigen Funktionen haben soziale Medien und Online-Kommunikationsdienste neue Möglichkeiten der wechselseitigen Interaktion und Anschlusskommunikation geschaffen. Die Teilhabe an öffentlichen Diskursen und gesellschaftlichen Streitfragen wird Internet-Nutzer*innen einfach gemacht. Sie können von Fall zu Fall entscheiden, ob sie passiv oder aktiv an Diskussionen teilnehmen, und haben zudem die Möglichkeit, journalistische Inhalte und politische Debatten öffentlich zu kommentieren und zu problematisieren. Dies gilt auch für andere Onlinemedien wie Foren, Kommentarsektionen auf Nachrichtenseiten und Videoportale. Doch nicht alle Nutzer*innen beachten in ihrer Kommunikation die Regeln der höflichen Umgangsform. Unzivile Kommunikationsformen treten auf, zum Beispiel Beleidigungen, die bis hin zu Hasskommentaren und verfassungsfeindlichen Äußerungen reichen. Sie entziehen der öffentlichen Kontroverse faktisch den Boden (BMFSFJ, 2020, S. 46). Eine Vielzahl von Initiativen wie die Facebook-Gruppe #ichbinhier oder die Plattform Diskutier Mit Mir bieten einen Rahmen für die zivile Form der Auseinandersetzung.

Protest und Aktivismus via Hashtag

Die fortschreitenden Digitalisierungsprozesse erweitern das Engagementspektrum um neue, niedrigschwellige Aktivitäten, sodass Menschen zu gesellschaftlichem oder politischem Engagement auf einfache Weise einen Zugang finden. Eine einheitliche Definition, welche Handlungen im Netz dabei als engagementnaher Aktivismus und welche als Engagement bezeichnet werden, gibt es nicht. Dem Verständnis des Dritten Engagementberichts (BMFSFJ, 2020) folgend, werden in diesem Artikel Tätigkeiten wie das Verfassen eines Posts als niedrigschwellige Engagemenpraktiken verstanden. Diese neuen Engagementpraktiken können auch jenseits einer formalen Organisationsmitgliedschaft entstehen: In bestimmten Fällen dienen Hashtags, Memes oder Likes dazu, eine Teilöffentlichkeit lose miteinander zu vernetzen.

Digitale Kommunikation fungiert so als zentrales Koordinations­­­element für Teil­­öffentlichkeiten

Die digitale Kommunikation fungiert so als zentrales Koordinationselement und lässt um Hashtags gruppierte Diskursaktivitäten wie beispielsweise im Fall von #savetheinternet, #fridaysforfuture oder #metoo entstehen, die sich gelegentlich sogar zu sozialen (Protest-)Bewegungen entwickeln. Ihnen schließen sich Menschen an, für die das jeweilige Thema von ähnlich großer Bedeutung ist, auch wenn ihr Engagement in vielen Fällen zeitlich befristet ist und sich „am Ende der Aufmerksamkeitskarriere des anlassgebenden Problems oft wieder [verflüchtigt]” (Dolata & Schrape, 2018, S. 22). Vor allem für junge Erwachsene scheint diese Art der Meinungsartikulation attraktiv zu sein, wie die Jugendbefragung des Dritten Engagementberichts zeigt: Demnach hat sich jede*r vierte Jugendliche im Netz bereits mehrmals an politischen oder gesellschaftlichen Hashtag-Kampagnen wie #fridaysforfuture oder #wirsindmehr beteiligt (BMFSFJ, 2020).

Neue Artikulationsräume im Internet

Den Raum des Sagbaren verändern soziale Medien in ambivalenter Weise: Im Schutz der Anonymität können schwierige, schambehaftete oder tabuisierte Themen, für die es sonst an offenen Artikulationsräumen fehlt, leichter zu Sprache kommen. So finden beispielsweise Betroffene von Diskriminierung im Internet Schutzräume, die die Artikulation bestimmter Gedanken ermöglichen (Oswald, 2018). Zudem erhalten sie Zugang zu Informationen, können Anschluss finden an andere Betroffene, Solidarität und Unterstützung erfahren sowie die Chance zum gemeinsamen Handeln ergreifen (BMFSFJ 2020, S. 134). Diese Entwicklung zeigt sich besonders „bei den Themen sexuelle Vielfalt und seelische Gesundheit, die unter jungen Menschen online sehr offen diskutiert werden“ (Youth Policy Labs, 2019, S. 60). Die Vermutung liegt nahe, dass die Bereitstellung eines solchen öffentlichen Raums, in dem Nutzer*innen eigene Perspektiven zu sämtlichen Themenkomplexen einbringen können, ein hohes Potenzial für den kommunikativen Austausch bedeutet (Rowe 2015).

Digitale Medien bieten auch demokratie­feindlichen, unzivilen Akteur*innen einen Resonanzraum

Allerdings hat sich auch herausgestellt, dass die digitalen Medien auch demokratiefeindlichen, unzivilen Akteur*innen einen Resonanzraum bieten, die dort – etwa über Plattformen wie YouTube – Zugang zu extremistischem Gedankengut, zur Artikulation und zur Vernetzung in geschlossenen Gruppen finden (BMFSFJ, 2020, S. 134).

Trolling, Shitstorms und Hassrede

Die veränderten Kommunikationsbedingungen führen also nicht ausschließlich zu positiven Entwicklungen. Onlinemedien können auch Nährboden von unziviler Kommunikation sein. Laut Drittem Engagementbericht (BMFSFJ, 2020) ist darunter ein Kommunikationsverhalten zu verstehen, „das gegen die allgemeinen Normen der öffentlichen, bürgerschaftlichen Auseinandersetzung verstößt” (S. 46) und im Drohen, Beleidigen und Pöbeln in der Auseinandersetzung mit Andersdenkenden seinen Ausdruck findet. Unzivile Kommunikation überschreitet die interpersonalen Normen und lässt sich etwa in Form von aggressivenNutzer*innenkommentaren, Trolling, Shitstorms oder Hassrede in (teil-) öffentlich zugänglichen Diskussionen beobachten (Kümpel & Rieger, 2019, S. 5).

Durch die (emotionale) Ansteckung Gleichgesinnter entsteht ein viraler Effekt, der vom Protest hin zu Hassbotschaften führen kann

Als Trolle gelten Akteur*innen, die mit provozierenden Kommentare Online-Diskussionen stören. Eine sachliche Auseinandersetzung mit den Trolling-Posts ist in der Regel nicht zielführend, da die Motivation des Trollings lediglich darin besteht, Aufmerksamkeit zu erregen, ohne in eine Diskussion eintreten zu wollen. Dennoch sollte spätestens dann gehandelt werden, wenn Trolling in Hassrede (Englisch: hate speech) mündet (BMFSFJ, 2020, S. 86). Unter Hassrede ist der sprachliche Ausdruck von Hass mit dem Ziel der Herabsetzung und Verunglimpfung bestimmter Personen oder Personengruppen zu verstehen (zum Beispiel Herabsetzung aufgrund der sexuellen Orientierung, Religionszugehörigkeit, des Geschlechts oder der Ethnie). Hassrede in Onlinemedien kann verschiedene Formen annehmen, wobei grundsätzlich zwischen offenen, direkten und stärker verdeckten, impliziten Praktiken der Diskriminierung unterschieden wird (Kümpel & Rieger, 2019, S. 9). Davon abzugrenzen sind Shitstorms, die durch das geballte Auftreten heftiger Kritik gegen Einzelpersonen, Personengruppen oder Unternehmen in den Onlinemedien charakterisiert sind. Katzer (2019) betont, dass durch die (emotionale) Ansteckung Gleichgesinnter ein viraler Effekt entsteht, der vom Protest hin zu konkreten Hassbotschaften führen kann. Je größer die Gruppe ist, die dieses digitale Gruppenphänomen unterstützt, desto größer ist auch der Effekt (Katzer 2019, S. 150).

Wirkungen unziviler Kommunikation

Wie entstehen diese Formen unziviler Kommunikation und Engagements im digitalen Raum? Zum einen lassen sich die genannten Phänomene damit erklären, dass es im virtuellen Raum zu einer veränderten Wahrnehmung kommt, weil unsere Handlungen dort von der körperlichen Anwesenheit entkoppelt sind (Katzer, 2019). Zudem vermittelt insbesondere bei Shitstorms die Zugehörigkeit zu einer großen Gruppe Anonymität. In solchen Momenten „verlieren [wir] die Verbindung zu unserer eigenen individuellen Identität, aber auch zu unserem sozialen Kontext. Wir lösen uns von unseren ,real‘ gültigen Wertvorstellungen, können unkontrolliert reagieren und Bewusstsein und Gewissen einfach ausblenden” (Katzer, 2019, S. 158). Da in der Regel eine große Anzahl Mitstreiter*innen beteiligt ist, können Individuen in diese große Masse abtauchen und Gruppendynamiken entstehen. Folglich kann sich nach Katzer (2019) der Zusammenhalt unter Mitgliedern in einer extremen Konformität und Uniformität ausdrücken, während gleichzeitig eine Demonstration der Gruppenzugehörigkeit und Abgrenzung nach außen stattfindet. Das kann auch zu einer Verantwortungsdiffusion führen, wenn die Wahrnehmung als Individuum in den Hintergrund rückt und das Element des Gruppenverbandes in den Vordergrund. Unzivile Kommunikation ist „eine dynamische Entwicklung verbaler Grausamkeiten (…). Dabei fungiert die Gruppe, unsere Shitstorm-Gemeinschaft, als psychologischer Selbstschutz: Schuldbewusstsein und schlechtes Gewissen werden ausgeschaltet – es sind ja die anderen, die dies auch machen” (Katzer, 2019, S. 159–160).

Auf dem Weg zu einer besseren Diskurskultur

Unzivile Kommunikation wie Trolling, Hassreden oder Shitstorms kann sich bis hin zu Gewaltandrohung und der Verwendung verfassungsfeindlicher Äußerungen und Symbole steigern. Eine Maßnahme, um dem entgegenzutreten, ist das 2017 eingeführte Netzwerkdurchsetzungsgesetz, kurz NetzDG. Es soll soziale Netzwerke zum schnellen Löschen von strafrechtlich nicht zulässigen Inhalten oder zum Blockieren konkreter Nutzer*innen zwingen. Allerdings hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass sich unzivile Kommunikation in vielfältiger Weise ausdrücken kann und sich häufig unterhalb der Schwelle strafrechtlicher Verstöße bewegt.

Verschiedene Maßnahmen sollen den negativen Auswirkungen der digitalen Diskurskultur entgegenwirken

Neben dem NetzDG werden weitere Maßnahmen verfolgt, um auf die negativen Auswirkungen der digitalen Diskurskultur zu reagieren, unter anderem strategisches Community Management und Moderation der Kommentare, das Ausüben von Gegenrede sowie die Förderung von Medienkompetenz (Kümpel & Rieger, 2019, S. 25). In den letzten Jahren sind viele Engagement-Organisationen und -Projekte entstanden, die zumeist präventive Strategien zum Umgang bzw. zur Abwehr unziviler Kommunikation entwickelt haben. Die Facebookgruppe #ichbinhier zielt beispielsweise auf Intervention durch Facebook-Nutzer*innen ab, die dazu aufrufen, auf Hasskommentare mit sachlicher, konstruktiver und menschenfreundlicher Gegenrede zu reagieren, „um so den pauschalisierenden, abwertenden und aggressiven Stimmen in den Kommentarspalten etwas entgegenzusetzen” (ichbinhier, o. .J.). Die Wirksamkeit solcher Gegenrede-Intervention wird durch eine Studie von Garland et al. (2020) belegt, die zu dem Ergebnis kommt, dass auf Gegenrede häufiger neutrale Rede folgt als auf Hassrede und eine Gegenrede insofern ein effektives Mittel ist, um einen zivilisierten Diskurs herbeizuführen, vor allem wenn sie organisiert ist. Zivilgesellschaftliche Hassrede-Beratungs- und Vernetzungsstellen wie HateAid oder Das NETTZbieten Unterstützung für Betroffene und betreiben Aufklärungs- sowie Bildungsarbeit. Einen anderen Ansatz verfolgt die Online-Plattform und App Diskutier Mit Mir: Sie bietet die Möglichkeit zum direkten Meinungsaustausch. Nutzer*innen werden dabei von einem Algorithmus mit Menschen verbunden, die andere Meinungen als sie selbst vertreten. In 1-zu-1-Chats können anschließend politische Themen anonym und kontrovers diskutiert werden.

Potenziale und Herausforderungen der digitalen Diskurskultur

Die besonderen Merkmale der digitalen Diskurskultur bieten für das Miteinander in der Gesellschaft einige Potenziale, stellen sie aber auch vor neue Herausforderungen. Einerseits können neue, niedrigschwellige Beteiligungsmöglichkeiten an gesellschaftlichen Diskursen positiv für die Demokratie sein. Ergänzend zu verbindlichen, stetigen Formen des zivilgesellschaftlichen Engagements, bietet das Internet vielfältige, auch kurzfristige oder einmalige Möglichkeiten der konstruktiven Diskussion und des respektvollen Austauschs. Online-Kommunikationsdienste wie WhatsApp oder Telegram nehmen bei der Organisation digitalen, aber auch analogen Protests eine zentrale Rolle ein, wie das Beispiel von #fridaysforfuture zeigt. Andererseits bergen Onlinemedien aber auch Gefahren für das demokratische Gemeinwesen, denn viele Diskussionen politischer bzw. öffentlicher Akteur*innen in den Kommentarspalten der sozialen Medien zeugen von unzivilen Haltungen und entsprechendem Kommunikationsverhalten. Umso bedeutsamer sind zivilgesellschaftliche Initiativen, die solchem Verhalten entgegentreten und sich dafür einsetzen, die Höflichkeit und die Qualität von Online-Diskussionen zu erhöhen.

Literatur

[BMFSFJ] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2020). Dritter Engagementbericht – Schwerpunkt: Zukunft Zivilgesellschaft: Junges Engagement im digitalen Zeitalter. (BT-Drs. 19/19320). Berlin.

Dolata, U., & Schrape, J.-F. (2018). Swarms, Crowds, Communities, Movements – eine Typologie kollektiver Formationen im Internet. In M. Vilain & S. Wegner (Hrsg.), Crowds, Movements & Communities?! Potenziale und Herausforderungen des Managements in Netzwerken (S. 17–35). Nomos. https://doi.org/10.5771/9783845283050

Garland, J., Ghazi-Zahedi, K., Young, J.-G., Hébert-Dufresne, L., & Galesic, M. (2020). Countering hate on social media: Large scale classification of hate and counter speech. arXiv preprint arXiv:2006.01974. http://arxiv.org/abs/2006.01974

ichbinhier.eu (o. .J.). „Ein Hashtag in Aktion”. Abgerufen am 05.09.2020 von https://www.ichbinhier.eu/ich-bin-hier.

Jost, P., Ziegele, M., & Naab, T. K. (2020). Klicken oder tippen? Eine Analyse verschiedener Interventionsstrategien in unzivilen Online-Diskussionen auf Facebook. Zeitschrift für Politikwissenschaft, 30(2), 193–217. https://doi.org/10.1007/s41358-020-00212-9

Katzer, C. (2019). Virtuelle Gewaltphänomene: Die Psychologie digitaler Aggression und digitaler Hasskulturen. In C. Gorr & M. C. Bauer (Hrsg.), Gehirne unter Spannung – Kognition, Emotion und Identität im digitalen Zeitalter (S. 147–165). Springer Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-57463-8_7

Kümpel, A. S., & Rieger, D. (2019). Wandel der Sprach- und Debattenkultur in sozialen Online-Medien. Ein Literaturüberblick zu Ursachen und Wirkungen von inziviler Kommunikation. Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. https://doi.org/10.5282/ubm/epub.68880

Oswald, A. (2018). Onlineberatung — Ist Mailberatung noch eine angemessene Form, um Jugendliche und junge Erwachsene in (suizidalen) Krisen zu erreichen? Eine sozio-technische Analyse. e-beratungsjournal.net. Fachzeitschrift für Onlineberatung und computervermittelte Kommunikation, 14(1), S. 1-15

Rowe, I. (2015). Deliberation 2.0: Comparing the deliberative quality of online news user comments across platforms. Journal of Broadcasting & Electronic Media, 59(4), 539-555.

Youth Policy Labs. (2019). Gutachten über die internationalen Perspektiven zum Engagement im Zeitalter digitaler Medien. Dritter Engagementbericht. https://www.dritterengagementbericht.de/wp-content/uploads/2020/04/Youth-Policy-Labs-2019-Internationale-Perspektiven-zum-Engagement-im-Zeit.pdf