Entwicklung und Vermittlung von digitalen Technologien

Welche Effekte hat die zivilgesellschaftliche Teilhabe an und Mitprägung von technologischen Prozessen? Dieser Artikel liefert wissenschaftliche Hintergründe zum Themenfeld.

Veröffentlicht

21. Oktober 2020

Autorin

Claudia Haas

DOI

doi.org/10.5281/zenodo.4072802

Eine per Messenger vereinbarte Verabredung, das praktische Projektmanagement-Tool bei der Arbeit oder die regelmäßigen Videokonferenzen mit der Familie – unser Alltag ist durchdrungen von digitalen Hilfsmitteln, Plattformen, Anwendungen. Je besser man die dahinterstehende Technologie versteht, desto effizienter kann man sie nutzen und für gemeinwohlorientierte Interessen einsetzen. Aus den insbesondere von jungen Menschen erfundenen neuen digitalen Formaten und Handlungsansätzen, die technologisches Know-how mit gemeinwohlorientiertem Denken und Handeln verbinden, entsteht ein innovatives Engagementfeld. Diese Form der Mitgestaltung der digitalen Gesellschaft erfolgt unter anderem in Netzwerken und Gemeinschaften wie Code for Germany, die sogenannte Civic Tech oder Public Interest Tech (deutsch: zivilgesellschaftliche Technologien) entwickeln. Andere Initiativen geben ihre Expertise für die Technologieentwicklung in Bildungsprojekten wie zum Beispiel Jugend hackt oder OpenTechSchool an andere weiter. Als neue Form des gesellschaftlichen Engagements sind Civic-Tech-Gemeinschaften ein wichtiger Baustein für einen selbstbestimmten kompetenten Umgang mit Informationstechnologien und sie befähigen die Zivilgesellschaft, die Digitalisierung langfristig mitzugestalten.

Digitales Werkzeug für die Zivilgesellschaft

Während für das digitale zivilgesellschaftliche Engagement oft bestehende Infrastrukturen genutzt werden, kann auch an der Gestaltung der Technik sowie deren kreativer Nutzung in ehrenamtlicher Form mitgewirkt werden (BMFSFJ, 2020, S. 82). Technologie für Engagement wird von individuell Engagierten, gemeinnützigen Organisationen und staatlichen Institutionen inzwischen auf unterschiedlichste Art und Weise genutzt. Dieses wachsende Cluster von Aktivitäten wird als Civic Tech bezeichnet, worunter Technologien oder Software zu verstehen ist, die den Austausch von Information zwischen Bürger*innen und gemeinnützigen Organisationen oder der Regierung oder untereinander ermöglicht. Entwickelt wird Civic Tech meist von zivilgesellschaftlichen Initiativen, gemeinnützigen Organisationen oder Verwaltungen als digitales Werkzeug für die Zivilgesellschaft, um ihr Wissen an Interessierte weiterzugeben. Die Anwendungen vereinfachen den Alltag der Bürger*innen, unterstützen sie beispielsweise bei der Ausübung ihrer demokratischen Rechte, fördern Bürger*innenbeteiligung und schaffen Transparenz bei staatlichen Vorgängen (Baack et al., 2019, S. 2). Meist fokussieren sie sich auf bestimmte Funktionen, etwa die kollektive Bewässerung von Bäumen in der Nachbarschaft, die öffentliche Befragung von Abgeordneten verschiedener Parlamente durch die Bürger*innen oder die Anzeige barrierefreier öffentlicher Orte, Geschäfte und Infrastruktur auf in gemeinschaftlichen Participatory-Mapping-Projekten erstellten Karten.

Civic Tech zeichnet sich vor allem durch einen technologiegetriebenen Ansatz aus, der sich an den Bedürfnissen der Zivilgesellschaft orientiert, um ein bestimmtes Anliegen bestmöglich unterstützen zu können. Einfache Technologien, die zum Programmieren benötigt werden, sind in den letzten Jahren kostengünstiger und damit für immer mehr Menschen erschwinglich geworden. Durch Software, deren Quellcode frei zugänglich ist und die beliebig kopiert, genutzt und verändert werden darf, s.g. Open-Source-Software, sind um diese Tools herum Communities entstanden, die über die Programmierung, Nutzung und Analyse Auskunft geben, sodass das Wissen der Civic-Tech-Community auf einer breiten und global vernetzten Basis aufbaut (BMFSFJ, 2020, S. 68).

Civic Tech nutzt und generiert Daten

Eine grundlegende Rolle bei Civic Tech spielen Daten. Ihre Verfügbarkeit ist Voraussetzung für viele Civic-Tech-Tools. Dabei basieren viele Anwendungen auf den von (Stadt-) Verwaltungen zur Verfügung gestellten offenen Daten. Erst auf Grundlage dieser granularen, d. h. detaillierten und vollständigen Datensätze kann eine neue Beteiligungskultur etabliert und der Zivilgesellschaft ein vereinfachter Zugang zu Informationen geboten werden (Cheruiyot et al., 2019, S. 1218). Denn: Mit steigender Verfügbarkeit solcher Daten ergeben sich auch mehr Möglichkeiten der zivilgesellschaftlichen Auswertung. Die Plattform FixMyBerlin nutzt zum Beispiel Daten von Berliner Bezirksämtern, um auf einer Karte darzustellen, an welchen Orten der Stadt Radwege gebaut werden. Zum anderen sammeln und generieren Civic-Tech-Projekte auch selbst neue Daten wie zum Beispiel das Portal FragDenStaat, das nach Eigenbeschreibung bei der Einreichung von Informationsfreiheitsanfragen an Behörden Unterstützung anbietet und selbst eine große Datenbasis geschaffen hat, die Auswertungen ermöglicht (Baack, 2015, S. 7).

Im Vordergrund steht der Gemeinschaftssinn

Ein weiteres Beispiel des digitalen Engagements, das maßgeblich als Anlass des Schaffens von Civic Tech gilt, sind sogenannte Civic Hackathons. Die Veranstaltungen richten sich an eine breite technikinteressierte Zielgruppe und haben zum Inhalt, gemeinwohlorientierte Technik, Civic Technology, zu schaffen. Im Laufe eines Hackathons finden sich die Teilnehmenden in Teams zusammen, um ein bestimmtes gesellschaftliches Problem zu adressieren sowie Prototypen für dessen Lösung zu entwickeln und zu präsentieren. Civic-Tech-Akteur*innen schätzen diesen Gemeinschaftssinn und die Zusammenarbeit besonders, denn ihr oberstes Ziel ist nicht bloße technische Innovation, sondern die Ingangsetzung eines kulturellen Wandels von der hierarchisch organisierten Verwaltungsführung hin zu einer netzwerkartigen Zusammenarbeit von staatlichen und privaten Akteur*innen. Das Selbstverständnis zivilgesellschaftlicher Initiativen variiert dabei: Während sich manche auf eine themenbezogene enge Zusammenarbeit untereinander bzw. mit der Verwaltung fokussieren, verstehen sich andere stärker als deren Konkurrenten und versuchen, die Verwaltung mit den von ihnen entwickelten Anwendungen unter Druck zu setzen (Baack et al., 2019, S. 8).

Die Produktion von Civic-Tech-Tools kann als „Enabler für digitales Engagement gesehen werden, das als Grundlage für Information, Kommunikation, aber auch zur Generierung von Daten fungiert” (BMFSFJ, 2020, S. 69). Meist werden Civic-Tech-Projekte auf ehrenamtlicher Basis betrieben, die Beteiligten agieren aus Leidenschaft und Interesse an der gesellschaftlichen Entwicklung, wie etwa Julia Barthel von Code for Germany im Interview betont: „Tatsächlich ist es ein gesellschaftlicher Antrieb … Im digitalen Bereich gibt es viele Vorbehalte, die es nicht geben müsste. Ein umständliches, technisches System auf dem Bürger*innenamt macht mir klar, dass man immer wieder darüber reden muss, Technik nicht als gegeben hinzunehmen“. Es gibt breit gefächerte Möglichkeiten, sich ehrenamtlich im Feld der zivilgesellschaftlichen Technologieentwicklung zu engagieren: Sowohl auf administrativer Ebene als auch bei der inhaltlichen Entwicklung der Projekte können Engagierte zum Beispiel als Entwickler*innen, Designer*innen, Mentor*innen oder Daten-Analyst*innen mitwirken und ihre fachliche, zumeist technische, Expertise einfließen lassen.

Vernetzte Community

Datengetriebene Nichtregierungsorganisationen wie Open Government Partnership (OGP) oder Code for All setzen sich für die Verbreitung von Civic-Tech-Ansätzen und Tools weltweit ein und sind durch transnationale Netzwerkorganisationen und kontinuierlichen Austausch miteinander verbunden. Die netzwerkartige Zusammenarbeit zeichnet sich durch gemeinsame Datenpraktiken, Definitionen und Identitäten im Civic-Tech-Sektor aus, durch häufig auftretende Akteur*innen bei Trainings und regelmäßigen internationalen Konferenzen sowie durch ein hohes Maß an kommunikativer Vernetzung zwischen den Organisationen (kontinuierlicher Online-Diskurs, regelmäßige Teilnahme an internationalen Veranstaltungen und länderübergreifende Kooperationen) (Cheruiyot et al., 2019, S. 1218.). Der globale Civic-Tech-Sektor ist in den letzten Jahren substanziell gewachsen und Civic-Tech-Organisationen sind mittlerweile in fast allen Teilen der Welt verankert. Finanzielle Unterstützung erhalten Projekte von diversen Stiftungen, Start-ups oder (privatwirtschaftlichen) Unternehmen sowie aus der öffentlichen Hand (Baack, 2018, S. 674).

Auf europäischer Ebene soll das Anfang 2020 gestartete Pilotprojekt European Hub for Civic Engagement die Zivilgesellschaft durch technologieorientierte Lösungen vernetzen und stärken. Für Deutschland sei exemplarisch die Open Knowledge Foundation Deutschland (OKFN) genannt, ein „unabhängiger, überparteilicher, interdisziplinärer und nicht kommerzieller Verein“ (Open Knowledge Foundation, o. J.), der sich der Fragestellung widmet, wie digitale Anwendungen oder Plattformen Bürger*innen ermächtigen können, die Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Organisationen wie die OKFN fördern den offenen Zugang zu Daten aus Stadtverwaltungen, um Anwendungen zu schaffen, die die Stadtentwicklung transparent machen und den Dialog ermöglichen. Beispiele solcher Initiativen in Deutschland sind Code for Germany, Heart of Code oder Jugend hackt. Letzteres ist ein Programm zur Förderung des Programmiernachwuchses, das Hackathons für Jugendliche veranstaltet. Begleitet werden die Jugend hackt-Hackathons von ehrenamtlichen Mentor*innen, die den Teilnehmenden Hilfestellung bei der Entwicklung von Prototypen, digitalen Werkzeugen und Konzepten für ihre Vision einer besseren Gesellschaft geben.

Nachhaltigkeit der Projekte sichern

Civic-Tech-Initiativen fehlt es häufig an Mitteln und Stetigkeit, um Prototypen, Pilotprojekte und Dienste professionell in Organisationen mit nachhaltigen und langfristigen Geschäftsmodellen zu realisieren (Scaling Civic Tech, 2017; Baack et al., 2019). Insbesondere die kurzfristige Wirkung von Hackathons wird deshalb auch oftmals als problematisch betrachtet und in der Forschung diskutiert (Mason, Schwedersky & Alfawakheeri, 2017; Jach, 2020). Auch Civic-Tech-Akteur*innen weisen auf die begrenzt verfügbaren materiellen und personellen Ressourcen hin und beklagen, dass Organisation und Betreuung der Hackathons zu großen Teilen von Ehrenamtlichen gestemmt werden. Ohne „eine ausreichende Finanzierung [können sie] den Prozess nur eingeschränkt begleiten” (Jach, 2020). Ein langfristiges Bestehen von Civic-Tech-Projekten ließe sich durch eine niedrigschwellige beständige Finanzierung sowie durch neue Formate und die Steigerung der Digitalkompetenz der Bevölkerung erreichen.

Ein Beispiel für neue Formate ist der bundesweit veranstaltete Hackathon #WirVsVirus, bei dem im März 2020 in 48 Stunden 28.361 Menschen zusammen an über 1.500 Prototypen und Lösungsansätzen für gesellschaftlich relevante Fragestellungen im Hinblick auf die Corona-Krise gearbeitet haben (#WirVsVirus., o. J.). Eine gewisse Experimentierfreudigkeit mit Civic Tech auf Verwaltungsseite ist nützlich, um die Bedürfnisse von Bürger*innen besser zu verstehen und kooperative Lösungen für Probleme zu finden. Im Gegensatz zur Auslagerung von bestimmten technischen Prozessen kann Civic Tech eine „Stärkung der Verwaltung und des öffentlichen Sektors zur Folge haben” (Baack et al. 2019, S. 7). Den Ansatz, Bürger*innen, Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft zusammenbringen, um neue Lösungen für die Herausforderungen der Hauptstadt zu finden, folgt zum Beispiel auch das Innovationslabor CityLAB Berlin, das die Technologiestiftung Berlin in Zusammenarbeit mit dem Berliner Senat betreibt.

Zwischen Beteiligung und Empowerment

Civic Tech ermöglicht aber nicht nur eine stärkere Beteiligung und Einbindung von Bürger*innen in Verwaltungsprozesse und gesellschaftliche Gestaltungsprozesse, sondern auch ein Empowerment der Bürger*innen, d.h. Selbstbefähigung, um aktiv ihre Interessen formulieren und vertreten zu können. Civic Tech bedeutet die Entwicklung von Technologie aus der Gesellschaft heraus und die Teilhabe an und Mitprägung von technologischen Prozessen (BMFSFJ, 2020, S. 82). Zugleich stellen Civic-Tech-Tools Möglichkeiten für die vereinfachte Zusammenarbeit zwischen Zivilgesellschaft und Regierungen sowie zur Kontrolle von Regierungen bereit, woraus u. a. eine gesteigerte politische Beteiligung resultieren kann, sodass wiederum Entscheidungsprozesse von Regierungen einen größeren Anteil der Bevölkerung repräsentieren (Cheruiyot et al. 2019, S. 1218). Empowerment bedeutet, die Autorität der Bürger*innen gegenüber den Regierungen zu erhöhen. Civic Tech verändert also nicht nur die Art und Weise, in der Bürger*innen untereinander und mit der Regierung interagieren, sondern schafft durch niedrigschwellige Beteiligungsmöglichkeiten auch Praxiserfahrungen und Kompetenzzuwachs.

Literatur

Baack, S. (2015). Datafication and empowerment: How the open data movement re-articulates notions of democracy, participation, and journalism. Big Data & Society, 2(2), 205395171559463. https://doi.org/10.1177/2053951715594634

Baack, S. (2018). Practically Engaged: The entanglements between data journalism and civic tech. Digital Journalism, 6(6), 673–692. https://doi.org/10.1080/21670811.2017.1375382

Baack, S., Djeffal, C., Jarke, J., & Send, H. (2019). Civic Tech: Ein Beispiel für Bürgerzentrierung und Bürgerbeteiligung als Leitbild der Verwaltungsdigitalisierung. In T. Klenk, F. Nullmeier, & G. Wewer (Hrsg.), Handbuch Digitalisierung in Staat und Verwaltung (S. 1–9). Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-23669-4_29-1

[BMFSFJ] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. (2020). Dritter Engagementbericht – Schwerpunkt: Zukunft Zivilgesellschaft: Junges Engagement im digitalen Zeitalter. (BT-Drs. 19/19320). Berlin.

Cheruiyot, D., Baack, S., & Ferrer-Conill, R. (2019). Data Journalism Beyond Legacy Media: The case of African and European Civic Technology Organizations. Digital Journalism, 7(9), 1215–1229. https://doi.org/10.1080/21670811.2019.1591166

Jach, C. (2020, April 3). Nach dem Hackathon ist vor der Nachhaltigkeit #WirVsVirus [Blog]. Code for Germany. https://codefor.de/blog/nach-dem-Hackathon-vor-der-Nachhaltigkeit.html

Knight Foundation. (o. J.). Scaling Civic Tech [Knight Foundation]. How can we harness technology to promote civic engagement and more responsive government? Abgerufen 21. August 2019, von https://www.knightfoundation.org/features/civictechbiz/

Mason, B., Schwedersky, L., & Alfawakheeri, A. (2017). Wie innovative Ansätze der Zivilgesellschaft Geflüchtete in Deutschland unterstützen (Digitale Wege zur Integration).

betterplace lab. https://storage.googleapis.com/lab-website-2019-assets/Digitale-Wege-zur-Integration.pdf

Open Knowledge Foundation. (o. J.). Verein und Dachorganisation. Abgerufen 18. September 2020, von https://okfn.de/verein/

#WirVsVirus. (o. J.). #WirVsVirus. Abgerufen 17. Juli 2020, von https://wirvsvirushackathon.org/