Zivile Entwicklung und Vermittlung von digitalen Technologien

Die Mitgestaltung der digitalen Gesellschaft erfolgt unter anderem in Communitys, die selbst sogenannte zivile Technologien entwickeln oder anderen technologische Kenntnisse vermitteln. Ein solches Engagement ist wichtiger Baustein für einen kompetenten Umgang mit Informationstechnologien und befähigt die Zivilgesellschaft langfristig, Digitalisierung aktiv mitzugestalten.

Veröffentlicht

21. August 2020

Autorin

Claudia Haas

DOI

doi.org/10.5281/zenodo.3677144

Eine per Messenger vereinbarte Verabredung, das praktische Projektmanagement-Tool bei der Arbeit oder die regelmäßigen Videokonferenzen mit der Familie — unser Alltag ist durchdrungen von digitalen Hilfsmitteln, Plattformen, Anwendungen. Je besser man die dahinterstehende Technologie versteht, desto effizienter kann man sie nutzen und für gemeinwohlorientierte Interessen einsetzen. Diese Form der Mitgestaltung der digitalen Gesellschaft erfolgt unter anderem in Netzwerken und Gemeinschaften, die selbst sogenannte zivile Technologien (Civic Tech oder Public Interest Tech) entwickeln oder aber Expertise für die Technologieentwicklung in Bildungsprojekten vermitteln. Als neue Form des gesellschaftlichen Engagements sind Civic Tech-Gemeinschaften oder -Netzwerke ein wichtiger Baustein für einen selbstbestimmten, kompetenten Umgang mit Informationstechnologien und befähigen die Zivilgesellschaft, die Digitalisierung langfristig mitzugestalten.

Digitales Werkzeug für die Zivilgesellschaft

Während digitales zivilgesellschaftliches Engagement oft bestehende, Infrastrukturen nutzt, kann es ebenso an der Gestaltung der Technik selbst sowie deren kreativer Nutzung mitwirken (BMFSFJ, 2020, S. 68). Menschen, Organisationen und die Regierung haben damit begonnen, die Technologie zur Information und Förderung des bürgerschaftlichen Engagements zu nutzen. Dieses wachsende Cluster von Aktivitäten wird als Civic Tech bezeichnet. Civic Tech bezieht sich auf Technologien oder Software, die zur Information, zum Engagement und zum Austausch von Bürger*innen untereinander mit gemeinnützigen Organisationen oder mit der Regierung genutzt werden. Meist sind es zivilgesellschaftliche Initiativen, gemeinnützige Organisationen oder Verwaltungen, die Civic Tech als digitales Werkzeug für die Zivilgesellschaft entwickeln und sich dafür einsetzen, ihr Wissen an Interessierte weiterzugeben. Die Anwendungen vereinfachen den Alltag der Bürger*innen, unterstützen sie beispielsweise bei der Ausübung ihrer demokratischen Rechte, fördern Bürger*innenbeteiligung und schaffen Transparenz bei staatlichen Vorgängen (Baack et al., 2019, S. 2). Meist fokussieren sie sich auf eine bestimmte Funktion. So helfen zivile Technologie-Anwendungen bei der kollektiven Bewässerung von Bäumen in der Nachbarschaft, bei der Möglichkeit, als Bürger*innen Abgeordnete verschiedener Parlamente öffentlich zu befragen oder in gemeinschaftlichen Mapping-Projekten barrierefreie öffentliche Orte, Geschäfte und Infrastruktur auf Karten anzuzeigen, bei denen Bürger*innen selbst Orte registrieren können.

Civic Tech zeichnet sich vor allem durch einen technologiegetriebenen Ansatz und die primäre Orientierung an den Bedürfnissen der Zivilgesellschaft aus, um das jeweilige Anliegen bestmöglich unterstützen zu können. Einfache Technologien wie Sensoren oder Microcontroller sind in den letzten Jahren kostengünstiger geworden und damit für immer mehr Menschen erschwinglich. Durch Open Source Software und Open Hardware sind um diese Tools herum Communities entstanden, die über die Programmierung, Nutzung und Analyse Auskunft geben, sodass das Wissen der Civic-Tech-Community auf einer breiten und global vernetzten Basis aufbaut (BMFSFJ, 2020, S. 68).

Civic Tech nutzt und generiert Daten

Eine grundlegende Rolle bei Civic Tech spielen Daten: Zum einen basieren viele Anwendungen auf offenen Daten von (Stadt-)Verwaltungen. Die Verfügbarkeit von granularen, d.h. detaillierten, und vollständigen Daten ist demnach eine Voraussetzung für viele Civic Tech-Tools. Diese benötigt es, um eine neue Beteiligungskultur zu etablieren, die der Zivilgesellschaft einen vereinfachten Zugang zu Informationen bietet (Cheruiyot et al., 2019, S. 1218). Denn: Mit steigender Verfügbarkeit solcher Daten ergeben sich auch mehr Möglichkeiten der zivilen Auswertung. Die Plattform FixMyBerlin nutzt z.B. Daten von Berliner Bezirksämtern, um auf einer Karte darzustellen, an welchen Orten der Stadt Radwege gebaut werden. Zum anderen sammeln und generieren Civic Tech-Projekte selbst neue Daten wie z.B. das Portal FragDenStaat, das bei der Einreichung von Informationsfreiheitsanfragen an Behörden unterstützt und eigens eine große Datenbasis geschaffen hat, die wiederum Auswertungen ermöglicht (Baack, 2015, S. 7).

Im Vordergrund steht der Gemeinschaftssinn

Eine Praktik, die maßgeblich als Ort des Schaffens ziviler Technologien gilt, sind so genannte Civic Hackathon Veranstaltungen. Sie richten sich an eine breite, technikinteressierte Zielgruppe. Im Laufe eines Hackathons finden sich die Teilnehmenden in Teams zusammen, um ein bestimmtes gesellschaftliches Problem zu adressieren und für dessen Lösung anschließend Prototypen zu entwickeln und zu präsentieren. Das Ergebnis soll gemeinwohlorientierte Technik, Civic Technology, sein. Dieser Gemeinschaftssinn und Zusammenarbeit wird von Civic Tech-Akteur*innen besonders geschätzt, denn ihr vordergründiges Ziel ist nicht technische Innovation, sondern kultureller Wandel von einer hierarchisch organisierten Verwaltungsführung hin zu netzwerkartig zusammenarbeitenden staatlichen und privaten Akteur*innen bei der Aufgabenerfüllung. Das Selbstverständnis zivilgesellschaftlicher Initiativen variiert dabei: Während sich manche  auf eine enge Zusammenarbeit untereinander bzw. mit der Verwaltung zu bestimmten Themen fokussieren, verstehen sich andere stärker als Konkurrenten, die die Verwaltung mit ihren Anwendungen unter Druck setzen (Baack et al., 2019, S. 8).

Die Produktion von Civic-Tech-Tools kann als „Enabler für digitales Engagement gesehen werden, das als Grundlage für Information, Kommunikation, aber auch zur Generierung von Daten fungiert” (BMFSFJ, 2020, S. 69). Meist werden Civic Tech-Projekte auf ehrenamtlicher Basis betrieben, die Beteiligten dahinter agieren aus Leidenschaft, wie die Gespräche mit Engagierten im Rahmen des Projekts Jung. Digital. Engagiert. herausstellten. Die Möglichkeiten, sich ehrenamtlich im Feld der zivilen Technologieentwicklung zu engagieren, sind breit gefächert: Sowohl auf administrativer Ebene als auch bei der inhaltlichen Entwicklung der Projekte können Engagierte z.B. als Entwickler*innen, Designer*innen, Mentor*innen oder Daten-Analyst*innen mitwirken und ihre fachliche, zumeist technische, Expertise einfließen lassen.

Vernetzte Community

Datengetriebene Nichtregierungsorganisationen wie Open Government Partnership (OGP) oder Code for All setzen sich für die Verbreitung von Civic-Tech-Ansätzen und Tools weltweit ein. Sie sind in ein großes Netzwerk der Interessenvertretung eingebettet, das durch transnationale Netzwerkorganisationen und kontinuierlichen Austausch miteinander verbunden ist.

Civic-Tech-Organisationen sind mittlerweile in fast allen Teilen der Welt verankert

Dazu gehören gemeinsame Datenpraktiken, Definitionen und Identitäten im Civic Tech-Sektor, eine länderübergreifende Personalüberschneidung durch Stipendien, Trainings und regelmäßige internationale Konferenzen sowie ein hohes Maß an kommunikativer Vernetzung zwischen den Organisationen durch kontinuierlichen Online-Diskurs, regelmäßige Teilnahme an internationalen Veranstaltungen und länderübergreifende Kooperationen (Cheruiyot et al., 2019, S. 1218.). Der globale Civic Tech-Sektor ist in den letzten Jahren substanziell gewachsen und Civic-Tech-Organisationen sind mittlerweile in fast allen Teilen der Welt verankert. Finanzielle Unterstützung erhalten Projekte von diversen Stiftungen, Startups oder (privatwirtschaftlichen) Unternehmen wie Google oder Microsoft sowie von öffentlichen Geldern der Regierung (Baack, 2018, S. 674).

Auf europäischer Ebene soll das Anfang 2020 gestartete Pilotprojekt European Hub for Civic Engagement die Zivilgesellschaft durch technologieorientierte Lösungen vernetzen und stärken. In Deutschland sei die Open Knowledge Foundation Deutschland (OKFN) exemplarisch als Organisatorin genannt, die sich als gemeinnütziger Verein der Fragestellung widmet, wie digitale Anwendungen oder Plattformen Bürger*innen ermächtigen können. Organisationen wie die OKFN fördern den offenen Zugang zu Daten aus Stadtverwaltungen, auf deren Grundlage Anwendungen geschafft werden, die die Stadtentwicklung transparent und dialogfähiger machen. Beispiele solcher Initiativen in Deutschland sind z. B. Code for Germany, Heart of Code oder Jugend hackt. Letzteres ist ein Programm zur Förderung des Programmiernachwuchses, das Hackathons für Jugendliche veranstaltet. Begleitet werden die Jugend hackt-Hackathons von ehrenamtlichen Mentor*innen, die den Teilnehmenden Hilfestellung bei der Entwicklung von Prototypen, digitalen Werkzeugen und Konzepten für ihre Vision einer besseren Gesellschaft, geben.

Nachhaltigkeit der Projekte sichern

Civic Tech-Initiativen fehlt es häufig an Mitteln und Stetigkeit, Prototypen, Pilotprojekte und Dienste professionell in Organisationen mit Geschäftsmodellen zu übersetzen, die nachhaltig und langfristig bestehen (vgl. Scaling Civic Tech, 2017; Baack et al., 2019). Insbesondere die kurzfristige Wirkung von Hackathons wird oftmals diskutiert (vgl. Mason, Schwedersky & Alfawakheeri, 2017; Jach, 2020). Civic Tech-Akteure weisen auf die begrenzt verfügbaren materiellen und personellen Ressourcen hin. Die Organisation und Betreuung der Hackathons werde zu großen Teilen von Ehrenamtlichen gestemmt. Ohne „eine ausreichende Finanzierung [können sie] den Prozess nur eingeschränkt begleiten” (Jach, 2020). Neben einer niedrigschwelligen und beständigen Finanzierung für Organisationen, können auch neue Formate sowie die Steigerung der Digitalkompetenz der Bevölkerung einem langfristigen Bestehen der Civic Tech-Projekte dienen. Ein Beispiel für neue Formate ist der im März stattgefundene bundesweite Hackathon #WirvsVirus, bei dem in 48 Stunden 28.361 Menschen zusammen an über 1.500 Prototypen und Lösungsansätzen für gesellschaftlich relevante Fragestellungen im Hinblick auf die Corona-Krise gearbeitet haben. Grundsätzlich ist eine gewisse Experimentierfreudigkeit auf Verwaltungsseite sicherlich nützlich, um die Bedürfnisse von Bürger*innen besser zu verstehen und kooperativ Lösungen für Probleme zu finden. Statt eines Outsourcings kann Civic Tech dann auch eine „Stärkung der Verwaltung und des öffentlichen Sektors zur Folge haben” (Baack et al., 2019, S. 7). Den Ansatz, Bürger*innen, Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft zusammenbringen, um neue Lösungen für die Herausforderungen der Hauptstadt zu finden, folgt auch das Innovationslabor City Lab Berlin, das die Technologiestiftung in Zusammenarbeit mit dem Senat Berlin betreibt.

Zwischen Beteiligung und Empowerment

Im Spektrum zwischen Beteiligung und Empowerment ermöglicht Civic Tech, Technologie aus der Gesellschaft heraus zu entwickeln, an technologischen Prozessen teilhaben zu können und diese mitzuprägen (BMFSFJ, 2020, S. 68). Gleichzeitig stellen Civic Tech-Tools Möglichkeiten zur vereinfachten Zusammenarbeit mit Regierungen und zu deren Kontrolle bereit, woraus u.a. auch eine gesteigerte politische Beteiligung resultieren kann, sodass wiederum Entscheidungsprozesse von Regierungen demokratisch repräsentativer werden (Cheruiyot et al., 2019, S. 1218). Empowerment bezieht sich darauf, die Autorität der Bürger*innen gegenüber den Regierungen zu erhöhen. Civic Tech ermöglicht, die Art und Weise, wie Bürger*innen untereinander und mit der Regierung interagieren, zu verändern, indem die zivilen Technologien Kompetenzen im Umgang mit eben dieser fördern und niedrigschwellige Beteiligungsmöglichkeiten schaffen.

Literatur

Baack, S. (2015). Datafication and empowerment: How the open data movement re-articulates notions of democracy, participation, and journalism. Big Data & Society, 2(2), 205395171559463. https://doi.org/10.1177/2053951715594634

Baack, S. (2018). Practically Engaged: The entanglements between data journalism and civic tech. Digital Journalism, 6(6), 673–692. https://doi.org/10.1080/21670811.2017.1375382

Baack, S., Djeffal, C., Jarke, J., & Send, H. (2019). Civic Tech: Ein Beispiel für Bürgerzentrierung und Bürgerbeteiligung als Leitbild der Verwaltungsdigitalisierung. In T. Klenk, F. Nullmeier, & G. Wewer (Hrsg.), Handbuch Digitalisierung in Staat und Verwaltung (S. 1–9). Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-23669-4_29-1

[BMFSFJ] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2020): Dritter Engagementbericht – Schwerpunkt: Zukunft Zivilgesellschaft: Junges Engagement im digitalen Zeitalter. (BT-Drs. 19/19320). Berlin.

Cheruiyot, D., Baack, S., & Ferrer-Conill, R. (2019). Data Journalism Beyond Legacy Media: The case of African and European Civic Technology Organizations. Digital Journalism, 7(9), 1215–1229. https://doi.org/10.1080/21670811.2019.1591166

Jach, C. (2020, April 3). Nach dem Hackathon ist vor der Nachhaltigkeit #WirVsVirus [Blog]. Code for Germany. https://codefor.de/blog/nach-dem-Hackathon-vor-der-Nachhaltigkeit.html

Knight Foundation. (o. J.). Scaling Civic Tech [Knight Foundation]. How can we harness technology to promote civic engagement and more responsive government? Abgerufen 21. August 2019, von https://www.knightfoundation.org/features/civictechbiz/

Mason, B., Schwedersky, L., & Alfawakheeri, A. (2017). Wie innovative Ansätze der Zivilgesellschaft Geflüchtete in Deutschland unterstützen (Digitale Wege zur Integration). betterplace.lab.